INTERESSENKONFLIKTE LÄHMEN DIE SUCHTPOLITIK

In kaum einem Bereich des öffentlichen Lebens treten divergierende Interessen und Konflikte so deutlich zu Tage wie wenn es um potentiell abhängig machende Substanzen und Verhaltensweisen geht. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Aufgaben des Staates, die Rolle der Bürger und Bürgerinnen sowie die Interessen der Industrie auf vielfältige Weise miteinander verstrickt sind. Alle tragen Verantwortung, aber welche?

Das Suchtpanorama 2017 von Sucht Schweiz gibt einen Überblick über den Konsum von Alkohol, Tabak, Medikamenten und illegalen Drogen sowie über potentiell abhängig machende Verhaltensweisen wie Geldspiele und den Gebrauch von Internet. Es zeigt die Problemlast und gibt einen Einblick in politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge.

Tabak: Aufhörwillige Raucherinnen und Raucher haben einen schweren Stand

Die Zahlen bleiben unverändert: Eine von vier Personen ab 15 Jahren raucht in der Schweiz und ein Drittel der Bevölkerung ist mindestens eine Stunde pro Woche dem Passivrauch ausgesetzt. Und dies obwohl bereits über die Hälfte der Raucherinnen und Raucher angibt, mit dem Rauchen aufhören zu wollen. Dieses Vorhaben wird aber nicht zuletzt durch die Allgegenwärtigkeit von Tabakwerbung erschwert, welche die Mehrheit der Bevölkerung nach einer neuen Befragung von Sucht Schweiz verbieten möchte. Trotzdem wehrt sich das eidgenössische Parlament, Zigaretten im Rahmen des Tabakproduktegesetzes wirksam zu regulieren. In Anbetracht des Abhängigkeitspotentials von Tabakprodukten kann die Verantwortung nicht einseitig auf das Individuum abgestellt werden, denn es ist klar belegt, dass die Gründe für einen Einstieg in den Tabakkonsum unter anderem auch in der Attraktivität der Produkte liegen.

Alkohol: Riskante Normalität

Alkohol ist in unserer Gesellschaft etabliert, dies zeigen die Konsumzahlen, die sich in jüngster Zeit kaum verändern. So wurde im letzten Jahr in der Schweiz mit 8.1 Litern reinen Alkohols annährend gleich viel getrunken wie im Jahr zuvor. Weiterhin trinkt rund ein Fünftel der Bevölkerung über 15 Jahren zu häufig oder zu viel Alkohol. Ein besonderes Augenmerk verdient die Konsumentwicklung der jüngeren Altersgruppen. So scheint heute ein grösserer Anteil der 20- bis 24-Jährigen chronisch risikoreich Alkohol zu konsumieren. Ob es sich hierbei um einen Trend oder um einen statistischen Ausreisser handelt, werden die Erhebungen der kommenden Jahre zeigen.

Zwar könnte die Politik mit geeigneten Massnahmen wie zeitlichen Verkaufseinschränkungen oder Preisregulierungen Einfluss nehmen, was sie aber tunlichst vermeidet. Somit bleibt die alkoholbedingte Problemlast weiterhin unverändert hoch. Erfreulich hingegen ist die in Aussicht stehende Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für Testkäufe, welche den Jugendschutz stärken würde.

Illegale Drogen: viele Unklarheiten

Eine ganze Reihe anderer Drogen sind im Gegensatz zu Alkohol und Tabak strikt reguliert: Die Produktion, der Verkauf und der Konsum sind schlicht und einfach verboten. Nichtsdestotrotz haben etwa 210'000 Schweizerinnen und Schweizer vor kurzem in der Schweiz gekauftes und oft auch hierzulande produziertes Cannabis konsumiert. Damit laufen sie Gefahr, wie vom Gesetz vorgesehen, bestraft zu werden. Allerdings nicht alle gleichermassen, denn die Art der Bestrafung und das Risiko angehalten zu werden, variiert von einem Kanton zum andern sehr stark. Somit hat auch die Einführung des Ordnungsbussenverfahrens für den Konsum von Cannabis nichts an der Ungleichbehandlung von Cannabiskonsumierenden geändert. Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass verschiedene Parlamentarier und Parlamentarierinnen verhindern möchten, dass in den Städten alternative Modelle zum Verbot von Cannabis lanciert und wissenschaftlich evaluiert werden können. Die Botschaft ist klar: Lieber an einem Gesetz festhalten, an das sich Menschen nicht halten und das sie ungleich behandelt.

Medikamente: Der schmale Grat zwischen Nutzen und Missbrauch

Medikamente erweisen oft gute Dienste. Das Abhängigkeitspotential von gewissen Präparaten wie Schlaf- und Beruhigungsmitteln birgt aber auch Gefahren, wenn sie z.B. über einen zu langen Zeitraum eingenommen werden. In der Schweiz nehmen 2.3% der Schweizer Bevölkerung über 15 Jahren täglich oder fast täglich während mindestens eines Jahres meist rezeptpflichtige Schlaf- oder Beruhigungsmittel ein, bei den über 74-Jährigen fast 7%. Aber auch jüngere Menschen greifen ohne medizinische Indikation zu verschreibungspflichtigen Medikamenten, sei es um sich zu berauschen oder als Hirn-Doping. Dabei ist der Missbrauch von Medikamenten immer noch ein weisser Fleck in der Präventionslandschaft, wohl weil es sich um eine "stille" Abhängigkeit handelt. Vor diesem Hintergrund ist positiv anzumerken, dass in der neuen Strategie Sucht des Bundes der Medikamentenmissbrauch explizit erwähnt wird.

Glücksspiel: Spierinnen und Spieler haben viel zu verlieren

Heute spielen schätzungsweise 75'000 Menschen problematisch oder pathologisch, das sind 1.1% der Bevölkerung ab 15 Jahren. Die Geldspielproblematik manifestiert sich bei jungen Menschen am deutlichsten. Geldspiele sind ein zweischneidiges Schwert, da zum einen die öffentliche Hand bedeutende Einnahmen von der Gruppe von problematisch oder pathologisch Spielenden verzeichnet und zum anderen genau diese Gruppe von Spielenden grosse Probleme zu tragen hat. Deshalb müssten bei der Erarbeitung des neuen Geldspielgesetzes der Spielerschutz ebenso stark gewichtet werden wie die Interessen der Geldspielanbieter. Dies umso mehr als Casinos zukünftig auch Online-Casinos mit grösserem Gefährdungspotential anbieten dürfen. Nicht vergessen werden darf, dass die sozialen Kosten der Spielsucht in der Schweiz bereits heute auf 551 bis 648 Millionen Franken pro Jahr geschätzt werden.

Online: die Omnipräsenz des Internets birgt Risiken

Der grösste Teil der Schweizer Bevölkerung nutzt das Internet, und dies schon von Kindesbeinen an. Während für einen Grossteil der Bevölkerung das Internet ein hilfreiches Instrument im Alltag und der Freizeit darstellt, hat die permanente Verbundenheit aber für geschätzte 370'000 Personen ab 15 Jahren problematische Folgen, da sie Mühe haben, ihren Internetkonsum unter Kontrolle zu halten. Internet kann als Katalysator für eine Reihe von Verhaltensweisen wirken, die zu einer Abhängigkeit führen können (Glücksspiele, Pornographie, Kaufsucht) und birgt das Risiko, dass Nutzende einen problematischen Gebrauch entwickeln. Im Bann von Online-Spielen, sozialen Netzwerken, Newsseiten usw. sollen bei den Jugendlichen von 15 bis 19 Jahren rund 7.4% einen problematischen Gebrauch aufweisen. Da das Ausmass des Problems eher zunimmt, braucht es entsprechende Beratungen und Anlaufstellen.

Eine Frage der Verantwortung

Während die suchtmittelbedingte Problemlast auf hohem Niveau stagniert, verschwindet die Suchtproblematik zunehmend aus der öffentlichen Wahrnehmung wie auch von der politischen Agenda. Den jüngsten suchtpolitischen Debatten – die Revision des Alkoholgesetzes, das Tabakproduktegesetz und das neue Geldspielgesetz – ist eines gemeinsam: eine dezidierte Position des Parlaments, nicht regulierend in diese Märkte einzugreifen, und dies obwohl derzeit eine Ausweitung gewisser Märkte, wie z.B. beim Geldspiel, zu beobachten ist.

Gründe dafür mögen darin liegen, dass die öffentliche Hand selber von der schwachen Regulierung profitiert (deutlich vor allem beim Geldspielgesetz), oder weil die Industrie und die entsprechenden Lobbys ihren Einfluss auf die Politik stark geltend machen (gerade auch beim Alkohol- und Tabakproduktegesetz). Zur Rechtfertigung dieser Politik wird immer öfter primär auf die Eigenverantwortung der Bürger und Bürgerinnen verwiesen. Die Bürger in der Rolle als mündige Konsumierende zu sehen, die selbstverantwortlich über ihren Suchtmittelkonsum oder über ihr Geldspielverhalten entscheiden, ist im Grundsatz richtig und wichtig. Schliesslich hat ja auch eine Mehrheit ihren Konsum im Griff. Aber was bedeutet dies für Menschen, die die Kontrolle über ein Suchtmittel oder ein Verhalten verloren haben? Sind sie letztlich selber schuld an der Suchterkrankung? Was bedeutet es für die Solidarität mit suchtkranken Menschen und für all jene Menschen, die indirekt von einer Suchtproblematik betroffen sind, wie beispielsweise die rund 100'000 Kinder, die in einer Familie mit Alkoholproblemen aufwachsen?

Ein einseitiger Fokus auf die Eigenverantwortung blendet aus, dass Ursachen für Suchtprobleme nicht nur beim Individuum sondern auch beim sozialen Umfeld und der Gesellschaft zu finden sind. Nimmt man die Forderung nach verantwortungsbewusstem Handeln ernst, so muss sie für alle Akteure gelten, denn Eigenverantwortung ersetzt das verantwortliche Handeln der Industrie und der Politik nicht, sondern ganz im Gegenteil, setzt dieses voraus!

Suchtpanorama in PDF-Format

Quelle: Sucht Schweiz

 

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